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July 16, 2003

Das historische Buch

Fatimas Erben

Heinz Halm über die Fatimiden in Ägypten

Den sagenhaften «Beherrscher der Gläubigen» Harun al-Raschid (geb. 766) in Bagdad und den milden Sultan Salah al-Din (Saladin, geb. 1138) in Kairo kennen auch diejenigen, die sich nicht ausschliesslich mit dem Orient beschäftigen. Die Lebensgeschichten der fatimidischen Kalifen in Ägypten zwischen al-Muizz (973-975), dem vierten der Dynastie, und al-Mustansir (1036-1074) sind jedoch selbst den Islamkundlern nicht immer präsent. Heinz Halm berichtet in seinem neuen Buch (den Aufstieg der Fatimiden 875-973 hatte der Autor unter dem Titel «Das Reich des Mahdi» schon 1991 beschrieben) detailliert über das Leben und das Wirken der fünf in jenem Zeitraum wirkenden Kalifen, es sind nach offizieller fatimidischer Reihenfolge die Imame 14 bis 18. Die schiitischen Fatimiden leiten ihre Herkunft von Fatima, der Tochter des Propheten Mohammed, und ihrem Gemahl Ali, Mohammeds Vetter, ab. Ali selbst gilt den Fatimiden nicht als Imam, sondern als «Bevollmächtigter». Die Söhne Alis, al-Hasan und al-Husain, sind die ersten zwei fatimidischen Imame. (Die sunnitischen Abbasiden in Bagdad führten ihre Abstammung auf al-Abbas, den Onkel Mohammeds, zurück.) Der Aga Khan als leiblicher Nachkomme der Kalifen von Kairo beansprucht heute, das religiöse Oberhaupt, der 49. Imam in dieser Reihe, zu sein.

Der Autor betont, er wolle keine farbigen Märchen erzählen, sondern «Geschichten aus tausendundeinem Alltag». Er stützt sich dabei auf sechzig zeitgenössische muslimische und christliche Quellen. Gerade die Auswertung dieses reichen historiographischen Materials lässt die beschriebenen hundert turbulenten Jahre in Ägypten (ein General des al-Muizz hatte 969 Ägypten erobert und Kairo als Garnisonsstadt gegründet) in einer Lebendigkeit erscheinen, die atemberaubend ist. Gut, dass Halm sehr trocken berichtet und Fakten, Namen und Zahlen aneinander reiht, denn jede weitere erzählende Ausschmückung würde diese Geschichte über den Erhalt der politischen Macht und die Verbreitung des religiösen Einflusses nur unglaubwürdig machen.

Das Zentrum des Buches ist die lange Regentschaft des Kalifen al-Hakim (996-1021) der beim Tode seines Vaters al-Aziz (975-996) erst elf Jahre alt war. Das rätselhafte Verschwinden des Kalifen am 13. Februar 1021 und die sich daraufhin abspielenden Intrigen um seinen jungen Nachfolger az-Zahir (1021-1036) machten für zwei Jahre die politische Bühne frei für al-Hakims ehrgeizige ältere Schwester Sitt al-Mulk (wie alle fatimidischen Prinzessinnen war auch sie unverheiratet). Mit unerhörter Energie (und zahlreichen Meuchelmorden) verwirklichte sie ihre Pläne. Dass eine Frau die Regierungsgeschäfte führte, ist auch in der Geschichte des Islam nicht ganz ungewöhnlich: Von 1250 bis 1257 wurde Ägypten von der Ayyubidin Schadscharat ad- Durr regiert, die sogar den offiziellen Titel «Sultanin» führte. Während al-Hakims Kalifat entstand auch die Religion der Drusen ab 1015, die nach dem Beinamen ihres dritten Propheten, ad- Darzi (persisch: der Schneider; im arabischen Plural duruz), noch heute so genannt werden (auch wenn sie schon seit der Mitte des 11. Jahrhunderts nur noch eine unbedeutende Geheimreligion im südlichen Libanon lehren). Sie verehrten al-Hakim als eine Gottheit und erklärten das islamische Gesetz, die Scharia, für beendet: «Die Scharia und die Offenbarung sind Fabeln, leere Hülsen und Füllsel; das Heil hängt nicht daran.» Eine solche Ketzerei musste für das auf der koranischen Offenbarung gegründete islamische Staatswesen gefährlich sein. Halm beschreibt die Entstehung dieser Sekte und ihre Bekämpfung bis 1042; er analysiert ihre Lehre auf Grund der 28 Sendschreiben ihres «Kanons».

Wie in diesen Kapiteln, so auch in den anderen Teilen des Buches: Der Autor sieht Religions-, Geistes- und Profangeschichte in einem. An geeigneten Stellen werden auch übergreifende kulturgeschichtliche Studien eingefügt, so über die Feste der christlichen Kopten, die Moscheen von Kairo, das Unterrichtswesen oder über die Frauen in der islamischen Gesellschaft. In der Zeit der Fatimiden war Ägypten mit der neuen Hauptstadt Kairo das Machtzentrum der ganzen islamischen Welt, das die alten Zentren Damaskus, Bagdad und Cordoba in den Schatten stellte. Um der politischen Rolle der Fatimiden innerhalb des «Hauses des Islam» (Dar al-Islam) gerecht zu werden, handelt das Buch nicht allein von der ägyptischen Geschichte, sondern Halm bettet diese ein in die Gesamtgeschichte der islamischen Welt im Nahen und im Mittleren Orient: von Damaskus über Bagdad bis nach Buchara, von Schibam in Jemen bis nach Schiras in Persien.

In diesem riesigen Gebiet lebten nicht nur Muslime (Sunniten, Schiiten, Ismaeliten), sondern auch Juden und Christen. Diese wurden gemäss dem islamischen Recht durch Verträge geschützt - wenn man sie nicht verfolgte und beraubte, weil man dringend Geld benötigte. Dass diese Verfolgungen nicht religiös motiviert waren, wird daraus ersichtlich, dass zum Beispiel einem Juden mit Namen Menasse ben Abraham das gesamte Steuerwesen Syriens unterstand. Unter al- Hakim waren wiederholt koptische Christen hohe Verwaltungsbeamte und Wesire, die ihre Behörden überwiegend mit Christen besetzten. Mit Toleranzedikten hat diese Praxis nichts zu tun, sondern man richtete sich pragmatisch nach dem, was für den Staat und den jeweiligen Kalifen das Beste und Günstigste war. Eine der Konkubinen des Kalifen al-Aziz - fast alle Fatimidenkalifen waren Söhne von Sklavinnen, die Ehefrauen spielten keine besondere Rolle - war eine griechische Christin, als Mutter des späteren Kalifen al- Hakim wurde sie zur «Mutter eines Sohnes». Einer ihrer Brüder wurde Patriarch von Jerusalem, ein anderer Metropolit von Kairo, unter al- Hakim dann im Jahre 1000 Patriarch von Alexandria (bis zu seiner Hinrichtung durch seinen Neffen al-Hakim 1010; entgegen den geltenden Regeln hatte er neue Kirchen gebaut). Die innerislamischen Auseinandersetzungen (zwischen Sunniten, Schiiten, Ismaeliten und Ketzern wie den Qarmaten und Drusen) waren weitaus wichtiger als die Konfrontation mit den eigentlich nützlichen und zu beschützenden nichtmuslimischen Minderheiten.

Etwas fällt besonders bei der Lektüre des Buches auf: Die Fatimiden in Ägypten haben zwar Städte und in Kairo die schönsten Moscheen (z. B. die al-Azhar, «die Strahlende») gebaut, sie haben unglaubliche Kunstschätze und Bücher gesammelt (bei der Plünderung der Palastbibliothek in Kairo 1068 wurden allein 18 000 Bände über antike Wissenschaften und 2400 Koranhandschriften gestohlen), aber Philosophen und grosse Theologen sucht man in Ägypten vergeblich. Die hohe Zeit der islamischen Philosophie im Mittelalter ereignete sich im Westen (al-Andalus) und im Osten (im heutigen Irak und in Persien). Ägypten unter den Fatimiden war, so will es scheinen, ein Land ohne theoretische Kontemplation: Nicht einer der in den Geschichten der islamischen Philosophie im Mittelalter verzeichneten Denker (beginnend mit al- Kindi im 9. Jahrhundert und endend mit Ibn Khaldun im 14. Jahrhundert) war ein Ägypter. Von den jüdischen Philosophen des Mittelalters stammt Saadia Gaon, 882-942, zwar aus dem oberägyptischen Fajjum, er lehrte und schrieb jedoch in Sura und in Bagdad. Mose ben Maimon (Maimonides, 1135-1204) wirkte zwar in Kairo ab 1165, er verfasste seine grossen Werke jedoch erst nach dem Sturz der Fatimiden durch den sunnitischen Sultan Saladin 1171. Halm spricht von einer «ungeahnten kulturellen Blüte» Ägyptens unter den Fatimiden, doch diese Kultur war weder theologisch noch philosophisch; es war eine materielle Kultur.

Heinz Halms Buch zu lesen, ist aufregend, weil die Geschichten, von denen er berichtet, voll intensiver Dynamik und Dramatik sind. Wer sich für die islamische Geschichte interessiert, wird durch dieses Buch in eine Welt eingeführt, die - von der europäischem Geschichtsschreibung vernachlässigt - zu entdecken sich nicht nur lohnt, sondern deren Kenntnis auch notwendig für das Verständnis des Islam ist.

Friedrich Niewöhner


Heinz Halm: Die Kalifen von Kairo. Die Fatimiden in Ägypten 973-1074. C. H. Beck, München 2003. 508 S., Fr. 67.-.