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30. December 2002
Der Spiegel
INTERVIEW: ERICH FOLLATH

"Nur wer Menschen hilft, dient Gott"

Karim Aga Khan IV. über seine Rolle als Nachfahre des Propheten und Führer der Ismailiten

SPIEGEL: Hoheit, die Presse hat Sie "Halbgott" genannt, auch schon mal "Papst" oder "Kapitalist der Armen". Was davon trifft zu?

Aga Khan: Es gibt für jeden Muslim nur einen Gott - gepriesen sei Allah -, und deshalb ist es ein schreckliches Missverständnis, sollte mich jemand für ein höheres Wesen halten. Richtig ist, dass die Investitionen in die Zukunft unserer weltweiten Gemeinde auch etwas mit den Aufgaben eines Konzernchefs zu tun haben. Und wenn Sie mein Amt mit dem des Papstes vergleichen wollen: Da gibt es Parallelen, allerdings ist mein Amt vererbbar.

SPIEGEL: Sie gelten als Nachfahre des Propheten. Laut Verfassung der Ismailiten haben Sie als "Imam unserer Zeit" die Verantwortung, für die "spirituelle Fortentwicklung wie für die Verbesserung der Lebensqualität" der Gläubigen zu sorgen. Eine schwere Bürde?

Aga Khan: Es ist meine Autorität und meine Aufgabe, das Amt des Imam zu bewahren und die Ethik unseres Glaubens in ihren unveränderlichen Grundzügen zu pflegen. Aber eben nicht nur: Man muss gewisse Aspekte den Bedürfnissen der Zeit anpassen und versuchen, im Kampf gegen Rückständigkeit als Avantgarde voranzugehen. Denn nur wer Menschen in ihren derzeitigen Nöten hilft, dient letztlich Gott.

SPIEGEL: Die Ismailiten gehören in vielen Ländern, in denen sie leben, zur Führungsschicht - ob in muslimisch geprägten wie in Pakistan, in afrikanischen wie in Uganda oder in westlichen wie in Kanada. Woran liegt das?

Aga Khan: Wir hatten stets ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl und legten hohen Wert auf Ausbildung. Islam bedeutet für uns, menschlichen Pluralismus zu schätzen sowie geistige Offenheit ...

SPIEGEL: ... derzeit nicht gerade weit verbreitete Tugenden in der islamischen Welt ...

Aga Khan: ... und deshalb hatten wir immer Zeiten besonderer intellektueller Brillanz. Die Basis unserer gemeinsamen Identität ist die Anerkennung des Imam der jeweiligen Zeit als höchste Autorität. Diese Gewissheit gibt mir heute die Möglichkeit, mit den Führern der ismailitischen Gemeinden in den jeweiligen Ländern zu arbeiten und auf die jeweils sehr unterschiedlichen Bedürfnisse vor Ort einzugehen. Wir können offensichtlich nicht überall den Menschen einen gleich hohen Lebensstandard verschaffen, aber wir können ihnen Hilfe zur Selbsthilfe geben - die Werkzeuge, es anzupacken.

SPIEGEL: Die Ismailiten mögen eine Speerspitze des Fortschritts sein, innerhalb der islamischen Welt sind sie eine winzige Minderheit. Für die Masse der Muslime scheint es nur abwärts zu gehen. Sie fühlen sich als Verlierer.

Aga Khan: Bei all unseren Entwicklungsprojekten achten wir immer darauf, dass nicht nur Ismailiten profitieren. Und wir sagen unseren Leuten, sie sollten sich als gute und loyale Mitbürger gegenüber den Regierungen zeigen, unter denen sie leben.

SPIEGEL: Das ist sicher manchmal schwierig. Nehmen wir einen historischen Extremfall: Uganda unter dem Diktator Idi Amin.

Aga Khan: Da war Loyalität unmöglich. Viele verließen damals das Land.

SPIEGEL: Aber auch heute leben Ismailiten in vielen Staaten, die nicht gerade vorbildlich demokratisch genannt werden können und in kriegerische Verwicklungen mit Nachbarn verwickelt sind, etwa Syrien oder Pakistan.

Aga Khan: Man muss fair sein. Viele Probleme entstanden nicht im Kontext des Islam, sondern durch die Politik der Kolonialmächte. Nehmen Sie den Nahen Osten oder auch Kaschmir, da erbten die heutigen politischen Führer fast unlösbare Konflikte, die sich wirklich nicht unserer Religion anlasten lassen.

SPIEGEL: Aber Sie müssen zugeben, dass die meisten muslimisch geprägten Länder auch durch die Inkompetenz ihrer Führer am Ende der Entwicklungsskala stehen. Oder kennen Sie einen wirklich demokratischen Staat, in dem der Islam die gesetzlich verordnete Religion ist?

Aga Khan: Ich leugne nicht, dass es mancherorts in der muslimischen Welt Mängel in der politischen Führung gibt. Aber ich weigere mich, die Demokratie amerikanischen Zuschnitts als eine Art Wundermittel zu sehen, das wir den Entwicklungsländern einfach nur verordnen, und alles wird gut. Regierungsformen tragen in sich den Keim des Scheiterns, vor allem, wenn sie nicht in der Bevölkerung verwurzelt sind und nicht durch einen Verfassungsprozess begleitet werden - auch die Demokratie. Was wir brauchen, ist die offene Auseinandersetzung um den besten Weg.

SPIEGEL: Wollen das die islamistischen Scharfmacher, von denen manche sogar den Terror predigen?

Aga Khan: Ich weigere mich, die Weltreligion des Islam und den Terror in irgendeine Beziehung zu setzen. Wer sich als menschliche Bombe in einer Discothek oder einer Hotelhalle in die Luft sprengt, um möglichst viele mit in den Tod zu reißen, ist ein Verbrecher. Wenn Soldaten einer Besatzungsmacht angegriffen werden, ist das aber nicht mit dieser Form des Terrors gleichzusetzen. Mir ist jedenfalls nicht bewusst, dass in Zeiten der Entkolonialisierung für solche Taten dieser Ausdruck gebraucht wurde, die Rede war eher von Freiheitskämpfern - man muss also genau definieren, was gemeint ist. Manchmal scheinen mir Politiker und Medien reichlich vorschnell mit einer pauschalen Verurteilung von Muslimen.

SPIEGEL: Ist der Westen voreingenommen gegenüber dem Islam?

Aga Khan: Jedenfalls häufig ignorant. Und auch jetzt taucht der Islam meist nur im Schreckenskontext auf: blutige Konflikte, Bedrohung durch Einwanderung. Viele wissen nichts über die Geschichte der Religion, über ihre frühe intellektuelle Blüte, über ihre verschiedenen Ausprägungen bis heute - denn "den" Islam gibt es ja nicht. Nehmen Sie den Wahhabismus in seiner rigorosen Ausprägung, die Taliban-Ideologie: Wer im Westen hatte davon vor dem 11. September 2001 eine Ahnung? Ich weiß, dass muslimische Führer vor einem Terroranschlag dieser Größenordnung gewarnt haben - aber man nahm sie im Westen nicht ernst.

SPIEGEL: Müssten Muslime an den Schalthebeln der Macht nicht öffentlich Selbstkritik üben, statt, wie sooft geschehen, zu vertuschen und zu verharmlosen?

Aga Khan: Dass der Inhaber eines politischen Amts für seine Taten zur Rechenschaft gezogen wird, ist Teil unseres Glaubens. So steht es im Koran.

SPIEGEL: In Zeiten des "Kriegs gegen den Terror" fallen Differenzierungen offensichtlich schwer. Was wären die Folgen eines amerikanischen Feldzugs gegen den Irak für die islamische Welt?

Aga Khan: Das könnte große Unruhen auslösen, vor allem, wenn der Uno-Sicherheitsrat einer solchen Aktion nicht zugestimmt hat. Ich sehe nicht, was ein Krieg für Vorteile haben könnte.

SPIEGEL: In Afghanistan haben Bombenangriffe immerhin das unmenschliche Taliban-Regime weggefegt, die Lebensumstände in Kabul verbessert und Hamid Karzai den Weg ins Präsidentenamt geebnet.

Aga Khan: Die Situation von Bagdad lässt sich mit der von Kabul nicht vergleichen. Es hätte in Afghanistan übrigens niemals zur Machtübernahme der Taliban kommen dürfen - der Westen trägt daran Mitschuld. Hätte man sich diesem Krisenherd früher gewidmet, wäre es wahrscheinlich auch nicht zum Terror vom 11. September gekommen. Ich kann nur warnen, Afghanistan wieder stiefmütterlich zu behandeln. Karzai tut, was er kann, aber die Lage ist bis heute instabil.

SPIEGEL: Sie jetten nach Kabul, Moskau, Washington, haben in den letzten Monaten die Präsidenten Karzai und Putin sowie US-Außenminister Powell zu Vier-Augen-Gesprächen getroffen. Mischen Sie aktiv mit in der großen Politik?

Aga Khan: Es geht mir nicht um politischen Einfluss. Es geht darum, den Menschen effektiv zu helfen - und das ist nur mit Zustimmung der jeweiligen politischen Autoritäten möglich.

SPIEGEL: Haben Sie ein Vorbild?

Aga Khan: Mein Großvater Aga Khan III. war ein wunderbarer, weit vorausschauender, brillanter Mann. Als er starb, war er fast 80 und ich 20. Ich erinnere mich an ihn als Lehrer, aber auch als einen, der mit wachem Geist suchte. Immer wieder brachte er mir bei, Dinge zu hinterfragen. Dass er mich zu seinem Nachfolger bestimmte, war eine große Überraschung für die Glaubensgemeinschaft - und für mich.

SPIEGEL: Nun haben auch Sie das Recht, einen Erben einzusetzen und für die Zeit nach Ihrem Tod aus Ihren männlichen Nachkommen den Führer der Ismailiten auszuwählen. Haben Sie sich schon entschieden, welchen Ihrer drei Söhne Sie zum 50. Imam machen?

Aga Khan: Ich dachte, ich müsste keine Antwort schuldig bleiben. Aber hierfür gilt: no comment.